Zeit zum Lernen

„Segle! – Singe! – Summe! – Sause!“ Hin und Her – auf und nieder lassen die Erstklässler an langen Fäden die Wäscheklammern schwingen, hinter denen bunte Krepppapierbänder flattern. Der Besucher, der die Kinder auf dem Schulhof oder einer Waldlichtung bei ihrer munteren Beschäftigung beobachtet, mag ihre roten Wangen bemerken und sich freuen, dass sie eine schöne Spielstunde haben. Aber wird er darauf kommen, dass sie gerade Schreiben lernen? Schier unermüdlich lassen sie ihre Luft-Schlangen in Achterfiguren s-s-sausen und s-s-summen. Wenn sie genug davon haben – oder besser noch ein wenig vorher – ruft der Lehrer sie wieder in die Klasse. Und wenn sie diese Formen nun in ihr Heft malen, wird sich der Buchstabe für den „Sauselaut“ – das S – wie von selbst ergeben.

So lernt ein Waldorfschüler in der Unterstufe das S – oder so ähnlich – oder ganz anders: Denn jeder Klassenlehrer entscheidet aufs Neue, aus welcher Tätigkeit oder aus welchem Bild er ein Schriftzeichen entstehen lässt. Auf eines aber kommt es ganz entscheidend an: die roten Wangen. Die große freudige Bewegung wird übergeleitet in die erst schwungvolle, dann immer konzentrierter geführte Malbewegung, aus der die feste Form entsteht, die man verinnerlichen kann, behalten und wieder hervorbringen – eben „schreiben“ kann.

Puls und Atem werden ruhiger bei dieser Arbeit, die Kinder „kühlen ab“ und können gegen Ende des Unterrichts ruhig und verträumt einer Erzählung lauschen, ehe sie ins Pausengetümmel aufbrechen. Müssten sie die ganze Zeit still sitzen, würden nur ihre Aufmerksamkeit und Konzentration angesprochen, weil eine fertig vorgesetzte Form genau zu kopieren wäre – die Kinder würden bleich und müde, einige würden kalte Füße bekommen.

„Rechter Fuß und linker Fuß: Das – sind – zwei!!“ Stampfend und springend festigen die Schulanfänger die Unterscheidung der Seiten – Grundlage für Orientierung im Raum, fürs Schreiben, für geordnetes und ordnendes Lernen.

Und ein Erüben der Zahlenreihen ohne Seilchenspringen ist kaum vorstellbar; zum Glück haben die Meisten das schon im Waldorfkindergarten gelernt. Aus der Folge der natürlichen Zahlen werden die Einmaleins-Reihen herausgelöst durch Stampfen, Klatschen, Klingeln bei jeder zweiten, dritten Zahl usw. ... Im chorischen Sprechgesang bringen ganze Klassen die Einmaleins-Reihen vor – immer wieder im gleichen Rhythmus und Tonfall.

Viele Lerngebiete werden so mit starker leiblicher Aktivität erobert. Im Laufe der Zeit werden Bewegung und Lautstärke zurückgenommen, der Rhythmus wird verinnerlicht. Am Ende der Unterstufe soll das Durchlaufen der Reihen sich ganz verlieren: Dann erst können die Schüler das Einmaleins – auch einzeln.

Die Bilder der Buchstabeneinführung sind vergessen. Die Unterscheidung von Rechts und Links muss so einverleibt sein, dass sie ohne Bewusstseinsakt funktioniert. Kinder, die diese Sicherheit nicht so leicht erlernen, können Einzelstunden bekommen, in denen Übungen aus der eurythmischen Bewegungskunst ihre heilende und entwicklungsfördernde Wirkung tun.

Ohne Druck und Drill wird so ein Schatz an Wissen und Fertigkeiten angelegt, der nicht ständig an der Oberfläche des Bewusstseins zum blitzschnellen Abruf bereitliegt, aber durch Erinnerung zuverlässig zu heben ist.

Mit zunehmendem Alter der Schüler gehen die Anteile körperlicher Bewegung an Unterrichtsstunden in den so genannten Lernfächern zurück. Seelische Bewegung sucht der Lehrer hervorzurufen durch lebendige Erzählungen im Geschichtsunterricht. In der Erdkunde fördern anschauliche Landschaftsschilderungen die Eigentätigkeit der Schüler im Vorstellen – Bildmedien, die zum reinen Zuschauen auffordern, werden sparsam eingesetzt, und nie zur Einführung eines Themas.

Auch in der Mittelstufe lässt sich mitunter Erkennen noch unmittelbar mit Wahrnehmen und Tun verbinden – am deutlichsten in der Physik, wenn Resonanz nicht nur hörbar, sondern auch fühlbar gemacht wird (etwa an einem stramm aufgeblasenen Luftballon). Die fast schon jugendlichen Siebtklässler mit ihren lang und kräftig gewordenen Gliedern „erlernen“ die Hebelgesetze in der praktischen Anwendung. Im Flaschenzug gar triumphiert der Geist des Menschen über die Schwere seines Körpers: Mit diesem Gerät kann man nicht nur Klassenkameraden oder den Lehrer, sondern sogar sich selber hochziehen!

Diese „Experimente“ greifen auf, was die Schüler in diesem Alter in Pausen und Freizeiten ohnedies tun: Kräftemessen unter Anwendung der Hebelgesetze. So trifft der Unterricht unmittelbar das tiefe, leiblich begründete Interesse der Schüler. Natürlich könnte man diesen Unterrichtsinhalt – wie fast jeden – auch früher behandeln; dann aber müsste man beibringen und erklären, was bei altersgerechter Vermittlung direkt erfahrbar und unmittelbar verständlich ist. Darum verlassen sich Waldorfschulen immer wieder auf ihren vielleicht altmodisch erscheinenden Lehrplan und wehren sich gegen verfrühtes Fakten- und Regellernen.

Der Zusammenhang zwischen motorischem Geschick und geistigen Fähigkeiten ist inzwischen kein Waldorf-Geheimnis mehr, sondern insbesondere bezüglich der mathematischen Fähigkeiten durch Untersuchungen belegt. Wir machen diesen Zusammenhang bis in die Oberstufe hinein nutzbar: künstlerische und handwerkliche Unterrichtsfächer sind bei uns nicht Dreingabe mit Wohlfühleffekt, sondern unverzichtbare Ergänzung der kognitiven Fächer. Kein Lehrer kann Schülern eindrücklicher und nachhaltiger die Folgen ihrer mehr oder weniger guten Arbeitshaltung vor Augen führen als das Brett, das im Tischlerkurs gerade gehobelt werden soll.

Das beglückende Erlebnis des Webens, wo durch Einschießen und Anschlagen das Gewebe sichtbar wächst, ist nur möglich, wo ein Webstuhl zuvor eingerichtet wurde. Hunderte von Kettfäden müssen sorgfältig und genau nach Plan eingefädelt werden, damit hinterher die richtigen Fäden sich heben und senken, und das erdachte Muster entstehen kann: Gedankenarbeit pur – mit den Händen zu vollziehen. Das aus der Weberei die ersten Steuerungssysteme entstanden sind, die übers Hollerith-System direkt zum heutigen Computer führen – solche und andere wichtige Kenntnisse fallen beim Webunterricht nebenbei an.

Die Zusammenhänge vieler Unterrichte – am besten aller mit allen – bemühen wir uns zu pflegen und, z.B. in Lehrertagungen, in immer neuen Möglichkeiten zu entdecken, zu beleben und zu verfeinern. Nicht fertige methodische Konzepte, sondern das beständige Ringen um die beste Möglichkeit: Das ist das Geheimnis, und die Bedingung, des Erfolgs von Waldorfschule.