Kunst

Die künstlerischen Tätigkeiten nehmen in der Waldorfschule einen großen Raum im Unterricht ein. So wird versucht, neben den klassischen Künsten wie Zeichnen, Malen oder Musizieren das gesamte Unterrichtsgeschehen künstlerisch zu fassen, den Unterricht selbst als Erziehungskunst zu gestalten. Rudolf Steiner strebte an, die Waldorfschule zu „durchkunsten!“.
Nun ist der Begriff Kunst landläufig allzu oft überfrachtet. Beispielhaft kann das Postulat von Joseph Beuys als Angelpunkt genannt werden: „Jeder Mensch ist ein Künstler!“ Selbstverständlich könnte dieser Satz zum Widerspruch aufrufen, und doch beleuchtet er die Ausrichtung, welche die Waldorfschule für sich leben möchte. Die kreativen Gestaltungskräfte, die den Menschen auszeichnen, sollen gefördert werden, damit der Schüler sich in seiner Ganzheit erleben kann.
Was heißt das nun im täglichen Schulleben? Die in unserer Schule ausgeübten Künste füllen im Stundenplan einen recht großen Zeitrahmen. Diese Stundentafel ist durchdacht, erprobt und gewollt. Mehr denn je benötigt der Mensch Seelenkräfte, die es ihm gestatten, den Erfordernissen der Zeit zu begegnen. Der starken Verkopfung, die sich in allen Bereichen des Lebens bemerkbar macht, muss entgegengewirkt werden, da die Einseitigkeit dieser Ausrichtung zu seelischen Erkrankungen führen kann. Die Kunstausübung hilft drohenden Defiziten zu begegnen. Es geht nicht um eine Kunst, die als artifizielles Gebastel einen Anspruch erhebt, der tatsächlich nicht erfüllbar ist, sondern um eine künstlerische Betätigung, die sich aus dem bewussten Erleben formt. In der Unterstufe erscheint es fast als ein absichtsloses, freies und fröhliches Tun. Dennoch ist es keineswegs eine Beliebigkeit, sondern ein altersgemäßes Eingehen auf die Kinder. Seitens des Lehrers bedeutet dies also eine wache Begleitung der Schritte ins Leben. Die Menschenkunde Rudolf Steiners ist da eine gute Richtschnur.
Mit dem Beginn der Oberstufe wird der Kunstunterricht als eigenständiges Fach unterrichtet. Mit der Kunstausübung erhält der Jugendliche die Möglichkeit, sich auf bildhafte Weise mit den Phänomenen der Außenwelt und der seelischen Innenwelt auseinander zu setzen. In der künstlerischen Tätigkeit, insbesondere beim Zeichnen, ist man ganz bei sich, aber auch ganz im Objekt, dem man in künstlerischer Anschauung seine Aufmerksamkeit schenkt. Mit der visuellen Aufnahme des Objekts, mit der Hinwendung zur Welt, wird die Trennung zwischen dem Ich und der Welt überwunden und eine neue, künstlerische Einheit gebildet. Der Schüler begreift sich und die Welt in einem aufgeschlossenen, erlebten Zusammenhang, er steht mittendrin.
Menschenkundlich steht hier, wie auch in den folgenden Schuljahren, als Ausgangsbasis die Entwicklungssituation des Schülers. Die kritische Weltsicht des Neuntklässlers, in der kaum Platz für farbige Zwischentöne ist, wird entsprechend aufgenommen, erhält durch den Unterricht ein Äquivalent. „Krass“, ein zur Zeit gängiger Lieblingsausdruck der Jugendlichen, wird in hartem Schwarz-Weiß in die Wirklichkeit umgesetzt. Zudem werden die Grundlagen der Perspektive unterrichtet. Es wird dem Gedanken Rechnung getragen, dass sich der Schüler mit den eigenen Perspektiven und den Ungereimtheiten des Lebens auseinandersetzt. Im perspektivischen Schwarzweißzeichnen wird diese Auseinandersetzung sichtbar.
In der 10. Klasse steht die Farbe im Vordergrund. Die Bereicherung des Lebens und der Welt durch die Farbe ist Thema des Unterrichts. Die Farblehre Goethes, der daraus entwickelte 12-teilige Farbkreis, der von Itten im Bauhaus Anwendung fand, wird unterrichtet. Die Aufgabenstellungen orientieren sich an diesen Vorgaben. Tages– oder Jahresläufe, deren Abfolge aus mindestens 4 Bildern die unterschiedlichen Farb– und Lichtverhältnisse innerhalb eines Tages wiedergeben, werden thematisiert. Der Gefühlswert der Farbe kann dem Jugendlichen als Ausdrucksmöglichkeit der eigenen inneren Welt zur Verfügung stehen, ohne von sich zu viel preiszugeben. Zum einen ist das Malen, quasi als Nebenprodukt, eine Metaebene für die eigenen Seeleninhalte, zum anderen eine ausgezeichnete Möglichkeit, der Welt in ihrem Farbreichtum zu begegnen. Naturstudien draußen in der Landschaft schließen sich an und immer wieder auch die Absicht, sich und andere durch Portraitstudien wiederzugeben, das Individuelle und Charakteristische herauszustellen.
In der 11. Klasse werden verschiedene druckgraphische Techniken unterrichtet (Hochdruck, Tiefdruck, Radierung). Die in dieser Zeit entstehenden Arbeiten dokumentieren das erlernte Handwerkliche und die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten einer Druckplatte. Bleibt es ein und dasselbe, wenn es sich in einer Metamorphose befindet. Oder doch nicht? Diese und ähnliche Fragestellungen begleiten den Unterricht. Sie hinterfragen den ästhetischen und den philosophischen Stellenwert der Kunst. Anhand von regelmäßigen Besuchen in der Hamburger Kunsthalle werden in den Kunstbetrachtungen Beziehungen zwischen den Kunstwerken herausgearbeitet. Der Bogen ist weit zu spannen: von der Gotik bis zur Gegenwart. Was hat z.B. Joseph Beuys mit Meister Bertram zu tun?
Die Standpunktsuche, welche in der 9. und in der 10. Klasse begonnen hatte, setzt sich in der 11. Klasse auf besondere Weise fort. Im zweiten Halbjahr haben die Schüler die Möglichkeit, völlig eigene Ideen zu entwickeln und diese umzusetzen. Die gesetzte Grenze ist die Vereinbarung mit den Schülern, keine diskriminierende, die menschliche Würde verletzende Darstellungen zu machen. Die entstehenden Arbeiten müssen konzeptionell durchdacht sein und mit einem möglichst dichten Aussagegehalt dargestellt werden. Die Wahl der künstlerischen Mittel ist frei - aber: beliebig darf es nicht sein, ein geistiger Hintergrund muss vorhanden sein.
In der 12. Klasse wird sich wieder verstärkt der Zeichnung zugewandt (weicher Bleistift, Rötel, Aquarell). Die Begegnung des Schülers mit sich selbst, in der Portraitzeichnung, ist das Hauptanliegen. Sie ist eine spannende Angelegenheit. Man kennt sich, weiß um sich, aber sieht man sich richtig? Das Entkommen ist vor dem Spiegel kaum möglich. Man ist mit sich selbst konfrontiert. Ehrlichkeit mit sich selbst ist die Arbeitsgrundlage. Die Standpunktfindung und Festigung, mit allen Schwierigkeiten des Erwachsenseins, ist in der 12. Klasse beheimatet.
Diese Arbeiten bilden die Übungsgrundlage für die am Ende der 12. Klasse anstehende Kunstreise mit dem Schwerpunkt Architekturzeichnungen, die an den realen Gebäuden erübt werden. Die Kunstreise nach Florenz ist, neben dem Klassenspiel, einer der Höhepunkte in der 12. Klasse. In den meisten Fällen ist die Reise an das Schuljahresende, und damit an das Ende der Waldorfschulzeit gelegt. Somit ist sie eine Unterrichtseinheit, deren Ausrichtung genau in die Richtung weist, die der Schüler der 12. Klasse für sich erlebt: Der Neubeginn, die Hinwendung zum eigenständigen Denken des Humanismus, hatte seinen Ansatz in der Renaissance. Dorthin, wo dieses Denken der Neuzeit sich entwickelte, nach Florenz, führen deshalb die Wege so vieler zwölften Klassen der Waldorfschulen.